Text und Fotos von Jörg Jäckel
Ich stehe in Athen und verstehe nicht einmal die Straßenschilder. Heute morgen bin ich mit meinem Touren-Rennrad im Gepäck hier hergeflogen. Was mich auf diesem Weg nur wenige Stunden gekostet hat, soll aus eigener Kraft drei Wochen dauern. Ich will die Strecke alleine mit dem Fahrrad bewältigen. Zwischen mir und meiner Heimat liegen Albanien, Montenegro, Kroatien und die Alpen.
Am Abend wage ich mich in die Stadt, um ein wenig von der antiken Metropole sehen. Im Zentrum reihen sich historische Denkmäler aneinander. Die Nacht ist lau und die Stadt vibriert. Es ist die Zeit, in der die Eulen herumstreifen. Unterhalb der erleuchteten Akropolis sitze ich auf einem Felsplateau und starre auf die unüberschaubare, fremde Stadt hinunter. Eine seltsame Mischung aus Ohnmacht und Vorfreude erfüllt mich. Vor mir liegen 2500km Kilometer Fremde und Abenteuer.
Gleich zu Beginn habe ich mir einige Highlights als Etappenziele ausgesucht. Delphi ist die erste Station. Antike Ruinen und ein Amphitheater zeugen von der sagenumwobenen Stadt. „Das ist unmöglich!“ Das Orakel, mein Herbergsvater, antwortet mir auf eine unausgesprochene Frage. Eine lange, heftige Etappe soll mich zu den Klöstern von Meteora bringen. Breite Straßen führen mich durch die Berge bei Delphi. Von beiden Seiten fallen gelb blühende Ginsterbüsche auf den feinen Asphalt. Die thessalische Ebene lässt mich auf meinem Votec VRd schneller vorankommen. Die Luft über den verlassenen Bundesstraßen glüht. Die Etappe bringt mich an meine Grenzen. Nach einsamen 236 Kilometern schießen mir beim Anblick der Felsnadeln von Meteora Tränen in die Augen. Erleichterung und Stolz mischen sich mit völliger Erschöpfung.
Griechenland gefällt mir, als Kehrseite stellen sich die wilden Hunde heraus. Immer wieder läuft mir einer der großen Köter laut bellend hinterher. Adrenalin flutet meinen Körper, ich komme mit dem Schrecken davon. Auf einer gesperrten, verlassenen Passstraße lungert hinter einer Kurve ein ganzes Rudel auf der Straße. Als der erste Hund mich wittert, rennen sie auf mich zu. Zurück kann ich nicht, also wähle ich die riskante Flucht nach vorne. Aus Angst brülle ich den Hunden entgegen. Ich rase durch das Rudel und habe Glück, dass mir keines der Tiere vor das Rad läuft. Mit zittrigen Knie rolle ich ein paar Kilometer weiter und muss dann tief durchatmen. Das war knapp. Die Angst, dass hinter der nächsten Kurve ein Straßenhund auftaucht, begleitet mich noch einige Tage. Das trübt das Erlebnis der schönen, griechischen Landschaft. Ich freue mich auf Albanien, das nächste Land.
Bis zur Jahrtausendwende war Albanien von politischen Unruhen geplagt. Als Spielball der großen Mächte kam das Land nie zur Ruhe. So steht Albanien heute mit einer kaputten, veralteten Infrastruktur da. Doch während Straßen- und Stromnetz bröckeln, reicht das Mobilnetz auch bis in die bergigste Ecke. Ein spannender Kontrast. Auch im entlegensten Küstenort kann ich Unterkünfte online buchen. Die albanischen Hotels sind rustikal, die Bewirtung ist umso herzlicher.
Südalbanien wirkt beschaulich und ist bergig bis ans Meer. Die ruhige, wellige Küstenstraße trägt mich nach Norden. Dort bildet ein massiver Höhenzug die Grenze zum flachen, nördlichen Landesteil. In vier, fünf langen Serpentinen klettere ich den Llogora Pass auf über 1000m. So nah am Meer ergibt das eine fantastische Aussicht.
Angespornt von der Nähe zu Montenegro beiße ich die Zähne bis Shkodra zusammen. Mich trägt die Hoffnung, dass dort die Bedingungen besser werden. Von riskanten Abenteuern habe ich genug.
Die Hoffnung erfüllt sich. Ich genieße die montenegrinischen Küstenstädtchen. Um die Hauptstadt Kotor herum wird das Mittelmeer fjordartig umschlossen, bis zu 1000m recken sich die Bergflanken ringsum in die Höhe. Zu Fuß besichtige ich die Burg weit über der Stadt. Den einzigen Muskelkater der Tour bekomme ich von den unendlich vielen Stufen durch die steile Festungsanlage.
Schnell habe ich das kleine Land durchquert. Im Norden grenzt Kroatien an. In einer kurzen Etappe gelange ich in die touristisch völlig überlaufene Stadt Dubrovnik. Die Besichtigung der einzigartig gut erhaltenen, historischen Stadt wird zum Spießrutenlauf zwischen Selfie-Sticks. Nach den einsamen Tagen auf dem Rad ist Dubrovnik für mich ein heftiger Kontrast.
Durch geschäftige Küstenstädte bringt mich meine Route in großen Schritten nach Norden. Die Bedingungen sind einwandfrei, das Wetter seit Tagen warm und trocken. Die schönen und dennoch teils monotonen Etappen auf der Küstenstraße fordern Tribut. Mein Nacken verkrampft zunehmend. Ich fange an, auf dem Rad die Muskulatur zu lockern. Mit der Nase folge ich einer gedachten Acht. Das sieht doof aus, scheint aber zu wirken.
Bei den Seefahrern galt das Mittelmeer vor Kroatien früher als gefährlich. Das Velebit Gebirge fällt dort steil ins Mittelmeer ab und es entsteht der brutale Fallwind Bora. Charakteristisch für einen stürmischen Tag sind die weißen Wolken, die heute über der Bergkette am Festland zu sehen sind. Mir wird das erst bewusst, als ich mich bereits auf der kargen Insel Pag befinde. Ich komme fast zum Stehen, wenn mir nach einer Kurve der Wind ins Gesicht bläst. Die Böen erschweren das Vorankommen, die Abwechslung von der Küstenstraße bereitet mir aber Vergnügen.
In Triest sammle ich Kraft für die letzte Herausforderung. Jetzt liegen nur noch die Alpen zwischen mir und meiner Heimat Stuttgart. Das Wetter hat sich etwas verschlechtert, auf den höheren Passstraßen hat es am Vortag geschneit. Ich schleiche mich über niedrigeren Pässe durch die Berge. Vorbei an der Zugspitze verlasse ich die österreichischen Alpen.
An der Grenze nach Deutschland beginne ich zu begreifen, dass ich es geschafft habe. Nach drei Wochen Anstrengung und Fremde erfreuen mich Kleinigkeiten. Heute sind es für mich die vertrauten, gelben Straßenschilder, die ich lesen kann. In den vergangenen drei Wochen bin ich mit einem mir fremden Teil Europas vertraut geworden. Ich bin den Menschen und Kultur nahe gekommen, wie es nur mit dem Fahrrad geht. Für mich ist das die beste Art zu Reisen.